von Dr. med. Klaus Merle 

Arbeitsunfähigkeit – Ursachen und Wege zur Verbesserung

Dezember 12, 2022 in Arbeitsmedizin

Am Ende eines jeden Jah­res ver­öf­fent­licht der BKK Dach­ver­band den Gesund­heits­be­richt der BKK vom vor­he­ri­gen Jahr. Jeder Gesund­heits­be­richt hat auch ein Mot­to (2022: Pfle­ge — ein Pfle­ge­fall?; 2021: Kri­se, Wan­del, Auf­bruch; 2020: Mobi­li­tät, Arbeit, Gesund­heit; 2019: Psy­chi­sche Gesund­heit und Arbeit; 2018: Arbeit und Gesund­heit Gene­ra­ti­on 50+; 2017: Digi­ta­le Arbeit — digi­ta­le Gesund­heit; 2016: Gesund­heit und Arbeit), wo wich­ti­ge und neue Spar­ten der Gesund­heits­po­li­tik betrach­tet wer­den. Die Berich­te fin­det man beim BKK Dach­ver­band auf der Web­site. Ein wich­ti­ger Part ist die Aus­wer­tung der Arbeits­un­fä­hig­keits­zah­len von Erwerbs­tä­ti­gen nach unter­schied­li­chen Gesichts­punk­ten, auf die ich in die­sem Bei­trag ein­ge­hen möch­te. Gleich­zei­tig möch­te ich über Ansät­ze spre­chen, die zur Ver­bes­se­rung bei­tra­gen könnten.


AU-Fälle und AU-Tage insgesamt

Die AU — Fall­zah­len haben in den letz­ten bei­den Jah­ren abge­nom­men, wäh­rend die AU-Tage pro Beschäf­tig­tem zuge­legt haben. Sicher­lich hat dar­auf auch die Coro­na-Pan­de­mie einen Ein­fluss gehabt.


Das Mus­ter bei der Alters­ver­tei­lung der Krank­heits­fäl­le und der Krank­heits­ta­ge ist in den letz­ten Jah­ren gleich geblie­ben. In Wer­ten sind die Fall­zah­len 2020 gestie­gen, wäh­rend die Krank­heits­ta­ge gleich geblie­ben sind. Auch hier mag die Coro­na­pan­de­mie ursäch­lich betei­ligt sein. Bemer­kens­wert ist, dass die Fall­zah­len bei < 20 — Jäh­ri­gen mehr als dop­pelt so hoch sind als in den Grup­pen ab 25 Jäh­ri­gen auf­wärts. Über die Ursa­chen muss man dis­ku­tie­ren. Frau­en lie­gen in allen Alter­grup­pen bei Fall­zah­len und Krank­heits­ta­gen höher als Männer.

Anzahl und Tage der über 6 Wochen Erkrank­ten hat in den letz­ten Jah­ren kon­ti­nu­ier­lich zuge­nom­men, wäh­rend die Krank­heits­fäl­le in den ande­ren Spar­ten sta­bil geblie­ben oder eher rück­läu­fig sind. Die Krank­heits­ta­ge pro Fall und ins­ge­samt bei psy­chi­schen Erkran­kun­gen haben deut­lich zuge­legt und sind auch Grund für die Ver­än­de­rung in die­ser Statistik.


AU-Fälle und AU-Tage der drei wichtigsten Diagnosen

Bei der Alters­ver­tei­lung der drei wich­tigs­ten Dia­gno­sen haben wir in den letz­ten Jah­ren eben­falls ein glei­ches Mus­ter. Wäh­rend bei Mus­kel-Ske­lett-Sys­tem­er­kran­kun­gen die Män­ner mehr betrof­fen sind lie­gen bei den bei­den ande­ren Dia­gno­sen und ins­be­son­de­re bei den psy­chi­schen Erkran­kun­gen die Frau­en vor­ne. Bei den Atem­wegs­er­kran­kun­gen haben gera­de jun­ge Leu­te unter 25 Jah­ren deut­lich mehr Fäl­le als die Älte­ren. bei allen Dia­gno­sen steigt die Krank­heits­ra­te zum Ende des Arbeits­le­bens deut­lich an, der Abfall bei > 65 — Jäh­ri­gen liegt an der deut­lich gerin­gen Zahl der Beschäf­tig­ten in die­ser Altersgruppe.


Verteilung der Krankheitsdiagnosen bei Arbeitsunfähigkeit

Bei der Ver­tei­lung der Krank­heits­di­gno­sen, die die Arbeits­un­fä­hig­keit bedingt haben, wer­den die vier wich­tigs­ten Dia­gno­sen her­aus­ge­nom­men und der Rest als “sons­ti­ge” zusammengefasst.

Die Atem­wegs­er­kran­kun­gen haben 2021 gegen­über den letz­ten bei­den Jah­ren deut­lich abge­nom­men, was unter ande­rem auch an den mil­de­ren Ver­läu­fen der Coro­na­in­fek­tio­nen nach Imp­fung liegt. Die psy­chi­schen Erkran­kun­gen haben in den Fall­zah­len etwas abge­nom­men, wäh­rend sich die durch­schnitt­li­che Krank­heits­dau­er erhöht hat. Krank­heits­fäl­le und ‑dau­er bei Mus­kel-Ske­lett-Erkran­kun­gen sind gleich geblieben.

Eine Sta­tis­tik der Tech­ni­ker­kran­ken­kas­se beob­ach­tet in ihrem Kli­en­tel das glei­che Verhalten.


Jahresverlauf bei der Arbeitsunfähigkeit

Die Ver­läu­fe der AU-Zei­ten im Jahr mit Schwer­punk­ten im Früh­jahr und im Spät­herbst sind ursäch­lich durch Infek­ti­ons­wel­len bestimmt. Wäh­rend 2017 bis 2019 hier Influ­en­za­wel­len das Gesche­hen bestimmt haben war 2020 die Coro­na­in­fek­ti­on der Aus­lö­ser. Durch die ein­ge­führ­ten Hygie­ne­re­geln mit Mas­ken­pflicht und Abstand hal­ten fand die Influ­en­za in den Coro­na­jah­ren nicht statt. Das sieht man auch gut am Ver­lauf der Zah­len im Früh­jahr 2021, wo die Coro­na-Imp­fung schon schwe­re Erkran­kun­gen ver­hin­der­te und die Influ­en­za­in­fek­ti­on durch die Hygie­ne­re­geln ver­hin­dert wur­de. Dass das nicht nur Vor­tei­le hat­te bewei­sen die Zah­len im Spät­herbst 2022. Durch die mas­si­ven Schutz­maß­nah­men wur­de unser Immun­sys­tem von Infek­ti­ons­er­re­gern abge­schot­tet und konn­te sei­ne Schutz­funk­ti­on nicht aus­bil­den. Mit der Locke­rung der Maß­nah­men kommt es nun zu deut­lich mehr und deut­lich schwe­ren Ver­läu­fen von Influ­en­za und grip­pa­len Infek­ten. Es dau­ert wie­der sei­ne Zeit, bis unser Immun­sys­tem die Wirk­sam­keit von vor der Pan­de­mie wie­der­erlangt. Jede Medail­le hat ihre zwei Seiten.


Besonderheit in Pflegeberufen

Wie die Gra­fik schön zeigt lie­gen die Arbeits­un­fä­hig­keits­zah­len in Kran­ken- und Alten­pfle­ge­be­rei­chen deut­lich über dem Rest der Beschäf­tig­ten. Haupt­dia­gno­sen sind Mus­kel-Ske­lett-Erkran­kun­gen und psy­chi­sche Stö­run­gen, was ursäch­lich mit den Arbeits­be­din­gun­gen zu tun hat. Die Grün­de dafür sind viel­fäl­tig und es ist gut, dass die BKK die­ses The­ma in die­sem Jahr zu Kern­the­ma gemacht hat. Es besteht drin­gen­der Hil­fe­be­darf. Wäh­rend in Kli­nik- und Kran­ken­haus­be­rei­chen durch Über­nah­men von Kon­zer­nen wie Askle­pi­os, Rhön­Kli­ni­ken und vie­len ande­ren der wirt­schaft­li­che Aspekt mit Gewinn­op­ti­mie­rung in den Vor­der­grund gerückt und die Pati­en­ten­ver­sor­gung eher sekun­där gewor­den ist hat der Alten­pfle­ge­be­reich durch die Ver­än­de­rung der Fami­li­en­stru­turen weg vom 3‑Ge­ne­ra­tio­nen-Haus enorm an Bedeu­tung gewon­nen. Die Gel­der der Pfle­ge­ver­si­che­rung und die Ren­te der alten Men­schen rei­chen in vie­len Fäl­len nicht aus, um die wirt­schaft­lich erfor­der­li­chen Kos­ten zu decken, die die Pfle­ge­insti­tu­tio­nen den “Kun­den” in Rech­nung stel­len müs­sen. Dar­aus resul­tie­ren­de schlech­te Bezah­lung der Beschäf­tig­ten führt dann zu einem Per­so­nal­man­gel mit Über­las­tung der Verbliebenen. 


Beziehung zwischen Bildungsgrad und Arbeitsunfähigkeit

Die Tech­ni­ker Kran­ken­kas­se hat bei ihrer Betrach­tung der Arbeits­un­fä­hig­keits­zah­len auch nach den Kri­te­ri­en Schul­bil­dung und Berufs­aus­bil­dung ausgewertet. 

Es ver­wun­dert nicht, dass die Arbeits­un­fä­hig­keits­zah­len umge­kehrt pro­por­tio­nal zum Bil­dungs­stand ver­lau­fen. In unse­rer Leis­tungs­ge­sell­schaft erfah­ren Men­schen mit nied­ri­ger Bil­dung gerin­ge bis kei­ne Wert­schät­zung. Das führt zu Arbeits­ver­wei­ge­rung und oft­mals zu einem Abrut­schen in ein kri­mi­nel­les Milieu. Im Arti­kel 1 unse­res Grund­ge­set­zes steht: Die Wür­de des Men­schen ist unan­tast­bar. Sie zu ach­ten und zu schüt­zen ist Ver­pflich­tung aller staat­li­chen Gewalt. Häu­fig kann ich das in unse­rer Gesell­schaft nicht mehr erken­nen. Wür­de hat auch etwas mit Wert­schät­zung zu tun und dazu bedarf es einer erheb­li­chen Por­ti­on an Demut, was vie­len Men­schen ver­lo­ren gegan­gen ist. Auf der ande­ren Sei­te ist aber auch Eigen­ver­ant­wor­tung gefragt. Man soll­te nicht immer nur ande­re für sein per­sön­li­ches Schick­sal ver­ant­wort­lich machen. Wenn bei­de Sei­ten das behel­li­gen hät­ten wir eine gute Chan­ce, aus die­ser Pro­ble­ma­tik im Guten herauszukommen.


Fazit

Das Pro­blem Coro­na­pan­de­mie wird sich sicher­lich irgend­wann von selbst lösen. Der Dorn in den Men­schen durch eine Unmen­ge von Hypo­the­sen an Schwarz­ma­le­rei aus allen Berei­chen von Gesund­heit und Poli­tik, von denen sich die meis­ten nicht bestä­ti­gen und ein­fach im Raum ste­hen blei­ben, sitzt tief. Das Gan­ze hat die Men­schen in zwei Lager gespal­ten, was die Pro­blem­lö­sung noch schwe­rer macht. Betrieb­lich gese­hen kann man das wenig beein­flus­sen, das muss die Poli­tik und die Gesell­schaft lösen. Daher kon­zen­trie­ren wir uns auf die Pro­ble­me, die man betrieb­lich ange­hen kann. Das sind die Mus­kel-Ske­lett-Erkran­kun­gen und die psy­chi­schen Stö­run­gen der Mit­ar­bei­ter, die wei­ter­hin ursäch­lich bei der Arbeits­un­fä­hig­keit die füh­ren­de Rol­le spielen.

1. Ergonomie und Muskel-Skelett-Erkrankungen

Mus­kel-Ske­lett-Erkran­kun­gen spie­len sich in der Mehr­zahl der Fäl­le in der Wir­bel­säu­le (HWS, LWS) ab. Durch mono­to­ne Tätig­kei­ten in der Pro­duk­ti­on, aber auch an Büro­ar­beits­plät­zen kommt es im Wir­bel­säu­len­be­reich durch Über­las­tung der klei­nen Hal­te­mus­keln zur man­gel­haf­ten Ent­las­tung der Band­schei­ben, die für deren Ernäh­rung wesent­lich ist. Dadurch dege­ne­rie­ren Band­schei­ben und füh­ren zu Band­schei­ben­vor­fäl­len mit Kom­pres­si­on der Rücken­marks­ner­ven an die­ser Stel­le, was zu Schmer­zen, Sen­si­bi­li­täts­stö­run­gen und schluss­end­lich auch zu Mus­kel­läh­mun­gen führt. Das gilt es zu verhindern.

Ergo­no­mi­sche Ver­än­de­run­gen an den Arbeits­lät­zen sind für die Prä­ven­ti­on enorm wich­tig. In gro­ßen Unter­neh­men gibt es eine Abtei­lung, die mit­tels eines Pro­gram­mes “ErgoCh­eck” die Ergo­no­mie aller Arbeits­plät­ze über­prüft und anpasst. Von der BAuA wer­den für mit­tel­stän­di­sche Unter­neh­men Pro­gram­me wie die Leit­merk­mal­me­tho­de zur Ver­fü­gung gestellt, die bei der Ergo­no­mie­be­wer­tung der Arbeits­plät­ze hel­fen. Auf mei­ner Web­site fin­det man unter Ergo­no­mie wei­te­re Informationen.


2. psychische Erkrankungen durch psychische Belastung am Arbeitsplatz

Effi­ci­en­cy ist das Zau­ber­wort in der moder­nen Indus­trie — kurz gesagt: immer mehr durch immer weni­ger. Men­schen sind durch­aus in der Lage, auf­grund kurz­zei­ti­ger Erfor­der­lich­keit Leis­tun­gen über ihr Limit hin­aus zu erbrin­gen. Danach muss es aber wie­der Zei­ten mit nor­ma­ler Belas­tung und Ruhe­pha­sen geben. Das ist heut­zu­ta­ge aber eher die Aus­nah­me. Durch Arbeits­ver­dich­tung und sehr häu­fi­gem Wech­sel der Arbeits­si­tua­ti­on (Chan­ge­Ma­nage­ment) bekom­men immer mehr Men­schen das Gefühl, der Situa­ti­on nicht mehr gewach­sen zu sein und fal­len psy­chisch krank aus. Richard Laza­rus hat mit sei­nem Stress­mo­dell den Pro­zess der psy­chi­schen Dekom­pen­sa­ti­on beschrie­ben und Wege dar­aus aufgezeigt.

Wie die letz­te Gra­fik schön zeigt füh­ren erst man­geln­de Res­sour­cen zu Stress mit psy­chi­scher Dekom­pen­sa­ti­on. Zur Kom­pen­sa­ti­on und Stress­be­wäl­ti­gung gehört die Stär­kung der Res­sour­cen. Exter­ne Res­sour­cen sind Tätigkeits‑, Hand­lungs- und Ent­schei­dungs­spiel­raum. Zu den per­sön­li­chen Res­sour­cen gehö­ren Gesund­heit, Qua­li­fi­ka­ti­on, Anla­gen, Per­sön­lich­keits­ei­gen­schaf­ten und Erfah­rung. Um Pro­ble­me im Betrieb her­aus­zu­fin­den hat der Gesetz­ge­ber den Unter­neh­men die Durch­füh­rung einer Gefähr­dungs­be­ur­tei­lung psy­chi­sche Belas­tung ver­ord­net. Ein gän­gi­ges Ver­fah­ren zum Scree­ning ist das Impuls­ver­fah­ren, was hier nicht wei­ter erläu­tert wird. Sind Auf­fäl­lig­kei­ten vor­han­den emp­fiehlt sich das ASI­TA-Ver­fah­ren. Wei­te­re Infor­ma­tio­nen fin­det man auf mei­ner Web­site unter Lea­der­ship.


3. Führung

Vie­le Mit­ar­bei­ter­be­fra­gun­gen in Groß­kon­zer­nen mit viel­fäl­ti­ger Aus­wer­tung zei­gen unter ande­rem, dass der Gesund­heits­in­dex mit dem Manage­ment­in­dex kor­rie­liert. GI und MI in den Abtei­lun­gen ver­lau­fen pro­por­tio­nal. “Ein wah­rer Lea­der ist meis­tens nicht die Per­son in einer Grup­pe, die am meis­ten spricht. Es ist die Per­son, die am bes­ten zuhört. Und Zuhö­ren bedeu­tet nicht nur zu hören, was gesagt wird, son­dern auch das zu sehen, was nicht gesagt wird.” Es beschreibt sehr schön die Qua­li­tät, die eine Füh­rungs­kraft essen­ti­ell besit­zen muss. 

Jedes Unter­neh­men, was erfolg­reich sein will, unter­liegt einem häu­fi­gen Wech­sel von Pro­zes­sen, die das Unter­neh­men von einer gege­be­nen Ebe­ne in eine höhe­re Ebe­ne brin­gen soll. “Pan­ta rhei — alles fließt” wäre zu ein­fach. Das Gesamt­sys­tem wird beim Chan­ge Manage­ment ver­än­dert, wo alle erfor­der­li­chen Ein­zel­ver­än­de­run­gen letzt­end­lich ein­flie­ßen und ein sinn­vol­les Gan­zes bil­den. Und vor jedem Chan­ge­Ma­nage­ment muss man das Ziel genau defi­nie­ren, wo man hin will, um bes­ser zu wer­den. Im Chan­ge House wer­den die dabei auf­tre­ten­den Pro­ble­ma­ti­ken sehr schön beschrie­ben und es liegt nun an den Füh­rungs­kräf­ten, die­se “Uneben­hei­ten” zu erken­nen und den Mann­schafts­bus auf Kurs zu hal­ten. Ansons­ten ver­wei­gern sich die Mit­ar­bei­ter und wer­den krank. Unter Lea­der­ship auf mei­ner Home­page fin­det man dazu mehr.

Über den Autor

Dr. med. Klaus Merle

Facharzt für Allgemeinmedizin und Arbeitsmedizin

Sportmedizin / Reisemedizin / Chirotherapie..

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