von Dr. med. Klaus Merle 

Arbeitsunfall – Prüfschema und weiteres Vorgehen

September 28, 2023 in Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz

Jeder Arbeit­ge­ber muss für sei­ne Beschäf­tig­ten eine Unfall­ver­si­che­rung bei der Berufs­ge­nos­sen­schaft abschlie­ßen und trägt dafür die kom­plet­ten Kos­ten. Gere­gelt wird das im

Sieb­ten Buch Sozi­al­ge­setz­buch — Gesetz­li­che Unfall­ver­si­che­rung — (Arti­kel 1 des Geset­zes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254).

Leis­tun­gen unter­schied­lichs­ter Art aus die­ser Ver­si­che­rung erhält jeder Ver­si­cher­te, der einen Arbeits­un­fall oder eine Berufs­krank­heit erlei­det. In die­ser Abhand­lung geht es um das The­ma Arbeitsunfall.


Gesetz: § 8 Sozialgesetzbuch VII

Arbeits­un­fäl­le sind Unfäl­le von Ver­si­cher­ten infol­ge einer den Ver­si­che­rungs­schutz nach § 2, 3 oder 6 begrün­den­den Tätig­keit (ver­si­cher­te Tätig­keit). Unfäl­le sind zeit­lich begrenz­te, von außen auf den Kör­per ein­wir­ken­de Ereig­nis­se, die zu einem Gesund­heits­scha­den oder zum Tod füh­ren. Wird die ver­si­cher­te Tätig­keit im Haus­halt der Ver­si­cher­ten oder an einem ande­ren Ort aus­ge­übt, besteht Ver­si­che­rungs­schutz in glei­chem Umfang wie bei Aus­übung der Tätig­keit auf der Unternehmensstätte

Ver­si­cher­te Tätig­kei­ten sind auch

  • das Zurück­le­gen des mit der ver­si­cher­ten Tätig­keit zusam­men­hän­gen­den unmit­tel­ba­ren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit,
  • das Zurück­le­gen des von einem unmit­tel­ba­ren Weg nach und von dem Ort der Tätig­keit abwei­chen­den Weges, um
    • Kin­der von Ver­si­cher­ten (§ 56 des Ers­ten Buches), die mit ihnen in einem gemein­sa­men Haus­halt leben, wegen ihrer, ihrer Ehe­gat­ten oder ihrer Lebens­part­ner beruf­li­chen Tätig­keit frem­der Obhut anzu­ver­trau­en oder
    • mit ande­ren Berufs­tä­ti­gen oder Ver­si­cher­ten gemein­sam ein Fahr­zeug zu benutzen,
    • das Zurück­le­gen des unmit­tel­ba­ren Weges nach und von dem Ort, an dem Kin­der von Ver­si­cher­ten nach Num­mer 2 Buch­sta­be a frem­der Obhut anver­traut wer­den, wenn die ver­si­cher­te Tätig­keit an dem Ort des gemein­sa­men Haus­halts aus­ge­übt wird,
    • das Zurück­le­gen des von einem unmit­tel­ba­ren Weg nach und von dem Ort der Tätig­keit abwei­chen­den Weges der Kin­der von Per­so­nen (§ 56 des Ers­ten Buches), die mit ihnen in einem gemein­sa­men Haus­halt leben, wenn die Abwei­chung dar­auf beruht, daß die Kin­der wegen der beruf­li­chen Tätig­keit die­ser Per­so­nen oder deren Ehe­gat­ten oder deren Lebens­part­ner frem­der Obhut anver­traut werden,
    • das Zurück­le­gen des mit der ver­si­cher­ten Tätig­keit zusam­men­hän­gen­den Weges von und nach der stän­di­gen Fami­li­en­woh­nung, wenn die Ver­si­cher­ten wegen der Ent­fer­nung ihrer Fami­li­en­woh­nung von dem Ort der Tätig­keit an die­sem oder in des­sen Nähe eine Unter­kunft haben,
    • das mit einer ver­si­cher­ten Tätig­keit zusam­men­hän­gen­de Ver­wah­ren, Beför­dern, Instand­hal­ten und Erneu­ern eines Arbeits­ge­räts oder einer Schutz­aus­rüs­tung sowie deren Erst­be­schaf­fung, wenn die­se auf Ver­an­las­sung der Unter­neh­mer erfolgt.

Als Gesund­heits­scha­den gilt auch die Beschä­di­gung oder der Ver­lust eines Hilfsmittels.


Prüfschema

  1. Ver­si­cher­te Person
  2. Grund­sätz­lich ver­si­cher­te Tätigkeit
  3. Ver­rich­tung zur Zeit des Unfallereignisses
  4. Sach­li­cher bzw. inne­rer Zusam­men­hang zwi­schen 2. und 3.
  5. Unfall­ereig­nis
  6. Unfall­kau­sa­li­tät (kau­sa­ler Zusam­men­hang zwi­schen 2. bis 4. und 5.)
  7. Gesundheits(erst-)schaden (oder Tod) 
  8. Haf­tungs­be­grün­den­de Kau­sa­li­tät (kau­sa­ler Zusam­men­hang zwi­schen 5. u. 7.)

Häu­fig gibt es Unklar­hei­ten bei der Bewer­tung ver­schie­de­ner Punk­te im Schema.

Was ist eine versicherte Tätigkeit?

Nach Jung (Hau­fe-Ver­lag) ist Aus­gangs­punkt zur Beur­tei­lung des sach­li­chen Zusam­men­hangs der von einem Ver­si­cher­ten zur Zeit des Unfalls aus­ge­üb­ten Ver­rich­tung mit sei­ner grund­sätz­lich ver­si­cher­ten Tätig­keit bei einem Beschäf­tig­ten nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 das dem Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis zugrun­de lie­gen­de Arbeits­ver­hält­nis. Grund­la­ge des Arbeits­ver­hält­ni­s­es ist der Arbeits­ver­trag, auf dem es beruht. Da ein Arbeits­ver­trag grund­sätz­lich form­frei abge­schlos­sen wer­den kann, kann sich sein Inhalt auch aus münd­li­chen Abre­den erge­ben (BSG, Urteil v. 30.6.2009, B 2 U 22/08 R).

An ande­rer Stel­le wird auch von ande­ren Arbei­ten gespro­chen, die im Sin­ne des Arbeit­ge­bers am Arbeits­platz ver­rich­tet wer­den (z.B. Schnee­räu­men auf dem Betriebs­ge­län­de, Ent­fer­nen von Eis­zap­fen an der Dach­rin­ne, etc.). Auf jeden Fall soll­te in sol­chen Fäl­len eine Beauf­tra­gung durch den Arbeit­ge­ber vor­lie­gen und eine gewis­se Eig­nung der beauf­trag­ten Mit­ar­bei­ter vor­han­den sein. Juris­tisch sind die­se Fäl­le aber unsau­ber und immer dis­ku­tier­bar. Wei­ter­hin gehö­ren Wege­un­fäl­le in beschrie­be­ner Form, Betriebs­sport, Gemein­schafts­ver­an­stal­tun­gen sowie Beför­dern und Repa­rie­ren von Arbeits­ge­rä­ten zur ver­si­cher­ten Tätig­keit. Unfäl­le im Home­of­fice wer­den nur dann aner­kannt, wenn der Ver­si­cher­te zwei­fels­frei den Zusam­men­hang mit einer ver­si­cher­ten Tätig­keit nach­wei­sen kann.


  • Gibt es einen Zusam­men­hang zwi­schen Unfall­ereig­nis und Gesundheitsschaden?
  • In einem Urteil vom Bun­des­so­zi­al­ge­richt (BSG, Urteil v. 9.5.2006, B 2 U 1/05 R; Urteil v. 17.2.2009, B 2 U 18/07 R) wird der Zusam­men­hang näher definiert:
    1. Der Ursa­chen­zu­sam­men­hang zwi­schen der unfall­brin­gen­den ver­si­cher­ten Tätig­keit und dem Unfall­ereig­nis wird als Unfall­kau­sa­li­tät bezeichnet.
    2. Der Ursa­chen­zu­sam­men­hang zwi­schen dem Unfall­ereig­nis und dem Gesundheits-(erst)schaden oder dem Tod des Ver­si­cher­ten bezeich­net man als haf­tungs­be­grün­den­de Kau­sa­li­tät.
    3. Der Kau­sal­zu­sam­men­hang zwi­schen dem Gesund­heits­scha­den und dem Ent­ste­hen von län­ger andau­ern­den Unfall­fol­gen wird als haf­tungs­aus­fül­len­de Kau­sa­li­tät bezeich­net.

    Nun kann es sein, dass ein Unfall­ereig­nis auf eine vor­ge­ge­be­ne Krank­heits­la­ge trifft wie zum Bei­spiel eine Achil­les­seh­nen­rup­tur bei vor­ge­schä­dig­ter Achil­les­seh­ne. Man bewer­tet dann zwi­schen wesent­li­cher oder nicht wesentlicher Gele­gen­heits­ur­sa­che

    In einer Kom­men­tie­rung von Jung (Hau­fe-Ver­lag) wird Fol­gen­des beschrieben:

    Eine Ursa­che im natur­wis­sen­schaft­li­chen Sin­ne, die jedoch nach obi­gen Grund­sät­zen nicht recht­lich wesent­lich ist, wird ver­schie­dent­lich als Gele­gen­heits­ur­sa­che oder als Aus­lö­ser bezeich­net. Dies geschieht ins­be­son­de­re dann, wenn bei dem Betref­fen­den eine äuße­re Ein­wir­kung in Gestalt eines Unfall­ereig­nis­ses und eine bereits zuvor vor­han­de­ne Krank­heits­an­la­ge fest­ge­stellt wer­den. Sowohl die äuße­re Ein­wir­kung als auch die Krank­heits­an­la­ge als inne­re Ursa­che sind in Bezug auf den anschlie­ßend ein­ge­tre­te­nen Kör­per­scha­den Ursa­chen im natur­wis­sen­schaft­li­chen Sinne.”

    Als Bei­spie­le nennt er:

    1. Der Riss der Achil­les­seh­ne kann auf die Dege­ne­ra­ti­on der Sehne und/oder auf eine plötz­li­che Kraft­an­stren­gung bei der ver­si­cher­ten Tätig­keit zurück­zu­füh­ren sein.
    2. Die Hirn­blu­tung und die dar­auf zurück­zu­füh­ren­den Fol­ge­schä­den kön­nen ihre Ursa­che in einer plötz­li­chen Kraft­an­stren­gung und/oder dem Plat­zen eines Aneu­rys­mas (Gefäß­er­wei­te­rung eines Blut­ge­fä­ßes) haben.
    3. Die psy­chi­sche Erkran­kung kann auf den Ver­kehrs­un­fall und/oder auf eine vor­her bereits bestehen­de “stum­me” Krank­heits­an­lage zurück­zu­füh­ren sein.

    In sol­chen Fäl­len ist nach der Recht­spre­chung des BSG (Urteil v. 9.5.2006, B 2 U 1/05 R; Urteil v. 12.4.2005, B 2 U 27/04 R; Urteil v. 27.10.1987, 2 RU 35/87) dar­auf abzu­stel­len, ob die Krank­heits­an­la­ge so leicht ansprech­bar war, dass die Aus­lö­sung aku­ter Erschei­nun­gen aus ihr nicht beson­de­rer, in ihrer Art uner­setz­li­cher äuße­rer Ein­wir­kun­gen bedurf­te, son­dern dass jedes ande­re all­täg­lich vor­kom­men­de Ereig­nis zu der­sel­ben Zeit die Fol­ge­er­schei­nung aus­ge­löst hät­te. Dies bedeu­tet, dass im Rah­men der wer­ten­den Betrach­tung ein – in Wirk­lich­keit nicht statt­ge­fun­de­nes – all­täg­li­ches Ereig­nis in die Über­le­gun­gen ein­be­zo­gen wird. Das bedeu­tet aber nicht, dass das Unfall­ereig­nis selbst von all­täg­li­cher Art gewe­sen sein müss­te. Das Unfall­ereig­nis kann durch­aus außer­or­dent­lich gra­vie­rend gewe­sen sein. Ent­schei­dend ist die “Ansprech­bar­keit” der Krank­heits­an­la­ge durch ein all­täg­li­ches Aus­tau­sch­ereig­nis. Dies wird oft­mals miss­ver­stan­den. (Jung, Hau­fe-Ver­lag)

    Wenn fol­gen­de Fra­gen mit „Ja“ beant­wor­tet wer­den, dann wäre es nicht als Arbeits­un­fall zu werten:

    • War die Achil­les­seh­ne so stark dege­ne­riert, dass sie in naher Zukunft genau­so gut beim nor­ma­len Gehen hät­te rei­ßen können?
    • Hät­te das Aneu­rys­ma bei einer all­täg­li­chen Kraft­an­stren­gung (z. B. beim Anhe­ben einer Akten­ta­sche, eines Geträn­ke­kas­tens) oder gar im Schlaf rei­ßen und zu der Blu­tung füh­ren können?
    • War die vor­be­stehen­de psy­chi­sche Erkran­kung so gear­tet, dass ein all­täg­li­ches Ereig­nis jeder­zeit eben­so gut hät­te zum Auf­tre­ten aku­ter Krank­heits­er­schei­nun­gen füh­ren kön­nen wie das tat­säch­lich statt­ge­fun­de­ne Unfallereignis?

    Hilf­reich bei der Bewer­tung im Nach­hin­ein ist zum Bei­spiel bei Ope­ra­ti­on eine His­to­lo­gie (mikro­sko­pi­sche Gewe­be­un­ter­su­chung) der ver­letz­ten Struk­tur (z.B. Achil­les­seh­ne, Menis­kus, Kreuz­band, Band­schei­be, etc.), die den Grad der Schä­di­gung angibt.


    Jeder Arbeits­un­fall, der bei Bewer­tung als sol­cher fest­ge­stellt wird, ist ab dem drit­ten krank­heits­be­ding­ten Fehl­tag bei der Berufs­ge­nos­sen­schaft mit einer Unfall­an­zei­ge zu melden

    Durch­gangs­ärz­te sind beson­ders qua­li­fi­ziert für die Behand­lung von Unfall­ver­letz­ten. Die Vor­stel­lung bei einem Durch­gangs­arzt ist erfor­der­lich, wenn

    • die Unfall­ver­let­zung über den Unfall­tag hin­aus zur Arbeits­un­fä­hig­keit führt,
      oder
    • die not­wen­di­ge ärzt­li­che Behand­lung vor­aus­sicht­lich über eine Woche andau­ert,
      oder
    • Heil- und Hilfs­mit­tel zu ver­ord­nen sind,
      oder
    •  es sich um eine Wie­der­erkran­kung auf­grund von Unfall­fol­gen  handelt.

    Eine als pdf elek­tro­nisch mit dem Acro­bat Rea­der aus­füll­ba­re Unfall­an­zei­ge fin­det man auf der Web­site der DGUV (https://www.dguv.de/medien/formtexte/unternehmer/u_1000/u1000.pdf)

    Abschlie­ßend bleibt fest­zu­hal­ten, dass jedem Arbeit­ge­ber zu emp­feh­len ist, das Prüf­sche­ma bei Arbeits­un­fäl­len gewis­sen­haft abzu­ar­bei­ten. Arbeits­un­fäl­le füh­ren zu Bei­trags­zu­schlä­gen. Soll­ten bei der Bewer­tung Unsi­cher­hei­ten auf­tre­ten, die nicht klar zu eru­ie­ren sind, soll­te immer im Sin­ne des Mit­ar­bei­ters ent­schie­den wer­den. Über allem steht aber die Prä­ven­ti­on zur Unfallvermeidung.

    Über den Autor

    Dr. med. Klaus Merle

    Facharzt für Allgemeinmedizin und Arbeitsmedizin

    Sportmedizin / Reisemedizin / Chirotherapie..

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