Einführung
„Lieber krankfeiern als gesund schuften“ – wer kennt diesen Spruch nicht. Auch „Assi-TV“ (“Armes Deutschland – Stempeln oder abrackern?” und “Hartz, Rot, Gold”) beschreibt das Klientel und zu keiner Zeit war es leichter, diesen „Freifahrtschein“ zu bekommen. Eine erhebliche Schuld tragen natürlich auch die Ärzte. Hier muss ich einem nicht unerheblichen Teil meiner Kollegen ein ganz schlechtes Zeugnis ausstellen. Anstatt ihrer eigentlichen Aufgabe nachzugehen und als von den Krankenkassen beauftragte Gutachter die Arbeitsfähigkeit zu überprüfen, werden AU-Bescheinigungen schon telefonisch oder im Wartezimmer ausgestellt, ohne das ein Arzt den Patienten überhaupt gesehen hat. Und auch die Dauer bestimmt häufig der Patient selbst. Der wirtschaftliche Schaden, der dadurch angerichtet wird, ist immens und die Firmen, die überwiegend diese Kosten tragen müssen haben wenig Möglichkeit, hier erfolgreich zu intervenieren. Wenn ich im ÄBD einen Dienst übernehme, muss ich mich zu einem großen Teil mit Patienten der Jahrgänge 1990 und jünger beschäftigen, die mit „ich brauch dann noch eine Krankmeldung“ kommen. Im Wartezimmer sieht man sie völlig unauffällig auf dem Handy „datteln“ und wenn sie dann in das Sprechzimmer kommen, mimen sie den Schwerkranken, der kurz vor dem Sterben steht. Völlig verwundert sind sie dann, dass ich nach eingehender Untersuchung des Beschwerdebildes feststelle, dass eine Arbeitsfähigkeit gegeben ist. Häufig muss ich mir anhören, dass „die anderen Ärzte es aber immer anders gesehen haben“ und nicht selten verlassen sie mit Beschimpfungen das Sprechzimmer.
Unser eigentliches Thema ist aber das Fehlzeitmanagement im Betrieb – warum ist es wichtig, was bringt es für das Unternehmen und welche Voraussetzungen muss man für eventuelle Folgeprozesse wie z.B. gesundheitsbedingte Kündigung schaffen. Zunächst möchte ich aber noch ein paar Fakten zusammentragen.
Historie

Streikende warten auf die Stimmenauszählung der Urabstimmung über Streik vor dem Gewerkschaftshaus in der Legienstraße 20–24.

Stimmenauszählung der Urabstimmung über Streik im Gewerkschaftshaus in der Legienstraße 20–24.
Die Geschichte der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist ein langer Kampf, der in der Weimarer Republik mit unterschiedlichen Regelungen für Arbeiter und Angestellte begann. Ein Meilenstein war der 114-tägige Streik von Metallarbeitern in Schleswig-Holstein 1956/57, der zu einer tarifvertraglichen Regelung für Arbeiter führte. Damals waren die Männer in einer Familie überwiegend die Alleinverdiener. Letztendlich ging es um die Absicherung des Familienunterhaltes, um entstehenden Nöten vorzubeugen. Es war im Sinne des Sozialgedankens absolut erforderlich und es ist erschreckend, was daraus geworden ist und wie dieses Privileg ausgenutzt wird. Die Väter dieser Bewegung würden sich im Grab rumdrehen.
Jährlicher Gesundheitsbericht der Betriebskrankenkassen


Wenn man sich die Altersgruppen anschaut, dann sind die Fallzahlen bei den < 20-Jährigen um ein 1,5‑Faches höher als bei den Altersgruppen > 25 Jahre. Frauen sind durchgehend mehr betroffen als Männer. Atemwegserkrankungen haben hier einen parallelen Verlauf. Bei den Krankheitstagen wiederum gibt es diesen gewaltigen Unterschied nicht. Hier erhöhen sich die Krankheitstage mit zunehmendem Alter, was eher dem Alterungsprozess der Beschäftigten geschuldet ist. Fazit aus dieser Statistik ist, das jungen Menschen die Integration in das Arbeitsleben mit Übernahme von Pflichten und Eigenverantwortung schwerfällt und sie sich immer wieder durch Kurzerkrankungen dieser Verantwortung entziehen. Ich würde mir wünschen, dass meine Kollegen bei der Bewertung der Arbeitsfähigkeit in diesen Gruppen etwas genauer hinschauen und die Tür zur Arbeitsunfähigkeit nicht leichtfertig öffnen. Von Betriebsseite her kann man versuchen, sich auf die jungen Menschen einzulassen und durch häufige Gespräche der Vorgesetzten mit den Betroffenen mehr Eigenverantwortung zu entwickeln. Erfahrungsgemäß ist das aber sehr mühsam und nicht allzu häufig von Erfolg gekrönt.

Zu den Hauptdiagnosen gehören immer noch die Krankheitsbilder des Muskel-Skelett-Systems. Von Betriebsseite her sollte man diesbezüglich auf die Ergonomie der Arbeitsplätze achten. Bei schwerer erkrankten Mitarbeitern mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 30 % und mehr kann man mit Gleichstellungsantrag bei dem Arbeitsamt eine Schwerbehinderung erreichen und damit die Unterstützung des Integrationsamtes oder des Integrationsfachdienstes anfordern.
Kosten eines Arbeitstages

Der Wert eines Arbeitstages wird oft mit der Formel “Quartalsgehalt geteilt durch 65” berechnet. Bei einem Brutto-Arbeitsentgelt von 3500 € sind das ungefähr 160 € täglich. Hinzu kommt noch der Wert, den der Arbeiter durch seine Arbeit an einem Tag für das Unternehmen erwirtschaftet. Auf den ersten Blick erkennt man sehr schnell, dass das alles keine Peanuts sind.
Um einen Überblick aller dieser Faktoren zu behalten ist ein Fehlzeitmanagement in meinen Augen für jeden Betrieb unbedingt erforderlich. Im Folgenden möchte ich einen Prozess beschreiben, der in Großunternehmen Tagesgeschäft ist, sich aber auch bei Mittelstandunternehmen anwenden lässt. Federführend in diesem Prozess ist die personalbearbeitende Stelle.
Arbeitszeiterfassung


Arbeitszeiterfassung bedeutet die systematische Aufzeichnung der täglichen Arbeitszeit, einschließlich Arbeitsbeginn, ‑ende, Pausen und Überstunden. Seit einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom September 2022 sind Arbeitgeber in Deutschland verpflichtet, ein objektives und verlässliches System zur Erfassung der Arbeitszeit einzuführen, um die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben zu gewährleisten. Ziel ist der Arbeitsschutz sowie die korrekte Lohnabrechnung. Darüber hinaus werden in diese Erfassungssysteme auch Urlaubstage, Feiertage und Krankheitstage eingetragen. Bei den Krankheitstagen wird zwischen Erstbescheinigung und Folgebescheinigung unterschieden. Über ein Excel-Sheet kann ich mir über jeden Mitarbeiter optisch einen guten Überblick schaffen.
Für den Arbeitgeber ist die Zeiterfassung zum einen ein Nachweis, dass die Arbeitszeiten nach dem Arbeitszeitgesetz eingehalten werden, zum anderen aber auch eine Übersicht über Krankheitstage. Hier erkennt man sehr schnell Kurz- oder Langzeiterkrankungen, Erst- oder Folgebescheinigungen, „Lage“ der Krankheitstage im Kalender (vor oder nach Wochenende, Brückentage, um Feiertage herum etc.), mehr als 42 Kalendertage roulierend über das Jahr hinweg und einiges mehr. Warum das wichtig ist beschreibe ich im nächsten Abschnitt.
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
Nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz (EntgFG) ist die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall die gesetzliche Pflicht des Arbeitgebers, einem Arbeitnehmer sein volles Gehalt weiterzuzahlen, wenn dieser wegen Krankheit arbeitsunfähig ist. Dieser Anspruch besteht für bis zu sechs Wochen pro neuer Erkrankung und beginnt erst nach vierwöchiger ununterbrochener Dauer des Arbeitsverhältnisses.
Wichtige Aspekte
- Dauer: Der Anspruch auf Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber beträgt maximal sechs Wochen für jede neue Krankheit.
- Voraussetzungen:
- Die Arbeitsunfähigkeit darf nicht selbst verschuldet sein.
- Das Arbeitsverhältnis muss mindestens vier Wochen ununterbrochen bestanden haben.
- Der Arbeitnehmer muss den Arbeitgeber unverzüglich über die Krankheit informieren und eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen.
- Nach der sechswöchigen Frist: Nach sechs Wochen übernimmt die Krankenkasse die Zahlung in Form von Krankengeld.
- Geltungsbereich: Die Regelung gilt für alle Arbeitnehmer, unabhängig davon, ob sie gesetzlich oder privat versichert sind.
- Arbeitgeberwechsel: Bei einem Wechsel des Arbeitsplatzes entsteht ein neuer Anspruch auf Lohnfortzahlung nach vier Wochen im neuen Arbeitsverhältnis.
Problematik für den Arbeitgeber
Wie die Definition beschreibt, hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für 6 Wochen, wenn er mindestens und ununterbrochen für 4 Wochen im Unternehmen gearbeitet hat. Bei Neueinstellung werden die ersten 4 Wochen im Krankheitsfall also nicht vom neuen Arbeitgeber bezahlt. Ansonsten gelten 6 Wochen pro Erkrankung. Das bedeutet, dass für jede neue Diagnose (Erstbescheinigung) der Anspruch auf Lohnfortzahlung mit dem Tag 1 neu beginnt. Wenn aber eine Erkrankung (z.B. Bandscheibenprolaps) nach einer Dauer der Besserung erneut auftritt, so ist eine Folgebescheinigung und keine Erstbescheinigung auszustellen. Das gilt über einen Zeitraum von 2 Jahren. Und hier liegt das Hauptproblem für ungerechtfertigte Lohnfortzahlung anstatt Krankengeld, da der Arbeitgeber aus Gründen der ärztlichen Schweigepflicht keine Diagnosen sieht und somit selbst nicht überprüfen und entscheiden kann, ob die Erstbescheinigung gerechtfertigt ist oder ob es doch eine Folgebescheinigung ist.
1. Möglichkeit:
Der Beschäftigte geht in eine andere Praxis und erhält für die gleiche Diagnose eine Erstbescheinigung, da der untersuchende Arzt von einer vorhergehenden AU nichts weiß und der Beschäftigte es ihm aber auch nicht sagt.
2. Möglichkeit:
Ein an sich gleiches Krankheitsbild wird einfach anders benannt und somit taucht ein anderer ICD-Code auf, obwohl es im Grunde die gleiche Erkrankung ist. Für die Krankenkasse ist es ein Erstfall, da auch eine Erstbescheinigung ausgestellt wird – somit Lohnfortzahlung und kein Krankengeld.
3. Möglichkeit:
Ein Krankheitsfall mit der gleichen Diagnose tritt nach einer längeren Zeit der Beschwerdefreiheit, aber innerhalb von zwei Jahren, erneut auf. Im überwiegenden Teil der Fälle erhält der Beschäftigte eine Erstbescheinigung, obwohl eine Folgebescheinigung gerechtfertigt wäre. Somit erhält der Arbeitnehmer die Lohnfortzahlung und nicht — wie eigentlich richtig — Krankengeld.
Die Krankenkasse kennt die Diagnosen und hätte die Möglichkeit, diesen Missstand aufzuklären. Sie hat aber wenig Interesse daran, da es ja letztendlich Zahlung von Krankengeld bedeuten würde.
Handlungsmöglichkeiten
Jeder personalführenden Stelle im Unternehmen ist anzuraten, das Zeiterfassungsblatt zum einen auf Arbeitszeitüberschreitungen zu überprüfen und zum anderen die AU-Bescheinigungen auf Richtigkeit zu kontrollieren. Die Einhaltung der Arbeitszeiten kann durch das Amt für Arbeitsschutz überprüft werden und bei Missachtung wird der verantwortliche Arbeitgeber (Geschäftsführer oder vergleichbare Funktion) mit einem Bußgeld in Abhängigkeit der Fälle persönlich bestraft. Bei der Überprüfung der AU-Bescheinigung ist auf folgende Faktoren zu achten:
- eine eingestreute Erstbescheinigung durch einen anderen Arzt
- Verdacht auf gleiches Krankheitsbild – nur anders benannt (kann nur die Krankenkasse prüfen)
- Eine nicht gerechtfertigte Erstbescheinigung bei gleichem Krankheitsbild nach längerer Rekonvaleszenz (innerhalb von 2 Jahren)
In Verdachtsfällen muss man die Krankenkasse um Klärung auffordern – und bei der erheblichen wirtschaftlichen Konsequenz ist das kein Bitten, sondern ein Auffordern. So sollte auch die Kommunikation geführt und die Lohnfortzahlung im Zweifelsfall von dem Arbeitgeber bis zur Klärung ausgesetzt werden. Ich denke, dass man durch die Krankenkasse eine richtige Antwort erhält. Jeder Streit zwischen Arbeitgeber und Krankenkasse kann in einem Rechtsverfahren überprüft werden und eine bewusste Falschaussage durch die Krankenkasse kann persönliche Konsequenzen für den Mitarbeiter haben. Das wird keiner riskieren.
BEM-Verfahren
Ein weiterer wichtiger Aspekt des Fehlzeitmanagements ist die Überprüfung auf einen BEM-Fall. Jedem Mitarbeiter, der roulierend über das Jahr hinweg mehr als 42 Kalendertage oder 30 Arbeitstage krankheitsbedingt fehlt, ist ein BEM-Gespräch anzubieten. Das alles wird im § 167 des SGB IX geregelt. Bei einer krankheitsbedingten Kündigung wird im Rechtsstreit vom Arbeitsrichter gefordert, dass Maßnahmen zur Wiedereingliederung durchgeführt wurden und nachweislich nicht erfolgreich waren bzw. das Angebot vom Mitarbeiter abgelehnt wurde. Wie das BEM-Verfahren durchgeführt wird, habe ich in einem anderen Blog erläutert.
Zusammenfassung
Die Durchführung eines Fehlzeitenmanagements ist aus unterschiedlichen Gründen, die im Verlauf erläutert wurden, unbedingt zu empfehlen und kann durchaus eine Kosteneinsparung und Rechtssicherheit als lohnende Folge haben. Noch besser wäre es, wenn die Krankenkassen unterstützen würden, da sie ja die Diagnosen kennen. Mit künstlicher Intelligenz und einem guten Auswertungsprogramm könnte man sicherlich auch schnell und unkopliziert die Fälle richtig zuordnen und dem Arbeitgeber eine entsprechende Information zukommen lassen. Das ist aber nicht gewollt, da der Anteil der Krankengeldempfänger wahrscheinlich deutlich steigen würde. Wenn es den Staat betrifft, dann schlägt die Axt zu (wie z.B. Steuerhinterziehung schon in geringem Maße). Im Privatbereich hat bei solchen Vergehen bzw. Falschangaben mit ähnlichem Verlust die öffentliche Hand überhaupt kein Interesse, das klarzustellen. Das macht nachdenklich.

